Stand: Oktober 1996
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Tibet Facts No. 2

Die chinesische Präsenz in Tibet: Bevölkerungstransfer

Das Argument, daß Tibet von "einer Flut von nicht-tibetischen Zuwanderern überschwemmt wird", ist  ein wichtiger Faktor bei Diskussionen um das heutige Tibet. Die Einwanderung von Chinesen in das Land wird oft als die größte Bedrohung für seine Stabilität und seine politische und wirtschaftliche Integrität bezeichnet. Auch der Dalai Lama nannte diesen Umstand die derzeit wohl schlimmste Bedrohung für Tibet.

Chinesische Siedler dominieren nun ganz in der Wirtschaft Tibets. Die rasante Entwicklung in Tibet ist so angelegt, daß sie in viel größerem Umfang der Masse der Neuansiedler als den Tibetern zugute kommt. Die chinesische Kontrolle über Tibet wird durch die Assimilierung des tibetischen Volkes und seiner Wirtschaft an China konsolidiert, was zum Ziel hat, Tibet ganz in eine chinesische Provinz umzugestalten. Eine 1994 von der Tibet Support Group England veranlaßte Studie kam zu dem Schluß, daß die chinesische Regierung die notwendigen Strukturen zur Erleichterung und zum Ansporn zu der Einwanderung nach Tibet absichtlich geschaffen hat (New Majority: Chinese Population Transfer into Tibet, Tibet Support Group 1994).
       

Eine beabsichtigte Politik der Bevölkerungsverlagerung

Die Einwanderung von Nicht-Tibetern nach Tibet ist zweifacher Art: eine unfreiwillige und eine wirtschaftlich geprägte. Die meisten der nach Tibet entsandten Chinesen sind Regierungsangestellte und Techniker. In den 80er Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt auf die Heranbildung von tibetischen Kadern, aber im Zuge des rapiden wirtschaftlichen Aufschwungs der letzten Jahre werden wieder mehr und mehr chinesische Fachleute gesandt, um bei der Entwicklung Tibets zu "assistieren".

Die wirtschaftsbedingte Einwanderung nach Tibet resultiert aus einer Kombination von massiven Wirtschaftsreformen in China, welche eine große Wanderbevölkerung von überschüssigen Arbeitskräften hervorgebracht haben, und von wirtschaftlichen Anreizen und günstigen Gelegenheiten in Tibet. Die chinesische Regierung hat diese wirtschaftliche Einwanderung nicht nur zugelassen, sondern sie unter dem Vorwand von Entwicklung sogar noch ausgesprochen gefördert, indem sie spezifische Verlockungen zur Übersiedelung nach Tibet anbot und ständig zur beschleunigten Entwicklung der "rückständigen" Regionen der PRC (People's Republic of China) mahnte (New Majority).

Die Politik des Bevölkerungstransfers wurde bei dem "Dritten Arbeitsforum zu Tibet" im September 1994 formuliert. Im Zuge dieser angeblichen Verlagerung in der Politik – bis dahin waren die nach Tibet gebrachten Fachleute offiziell nur auf temporärer Basis dort – sollen nun ehemalige Soldaten und paramilitärische Truppen als zivile Kader in Tibet auf Langzeit versetzt werden, ebenso wie Verwaltungspersonal, Techniker, Beamte und Experten mit Universitätsabschluß.

Bei dem "Dritten Forum" wurde auch die endgültige politische Ermächtigung zur Förderung von nichttibetischem Unternehmertum in Tibet gegeben und offen von der Tatsache gesprochen, daß viele der Zuwanderer eher Händler als Techniker und Verwaltungsbeamte sind. Einige bisherigen Regelungen zugunsten der Tibeter, wie Einschränkungen bei der Vergabe von Handelslizenzen und Niederlassungen in Tibet, die zumindest teilweise die ortsansässigen Tibeter zur Wahrnehmung von Geschäftsmöglichkeiten ermutigen sollten, wurden von dem "Dritten Forum" fallengelassen (Cutting off the Serpent's Head: Tightening Control in Tibet 1994/5, TIN & Human Rights Watch Asia).

Trotz alledem behaupten die Chinesen immer noch, daß "China überhaupt keine Massenimmigration in die Autonome Region Tibet betreibe" (Xinhua News Agency, 19/3/96).

Zwei Einwanderungsmuster wurden identifiziert. In Teilen von Kham und Amdo gibt es die Expansion in tibetisches Gebiet und die Aneignung von tibetischem Boden zu landwirtschaftlicher Nutzung. In Zentral- und West-Tibet (U-Tsang) ist das Muster eher die Urbanisierung mit chinesischen Siedlungen, die inmitten einer noch tibetischen Landschaft entstanden sind, und der Sinisierung von tibetischen Städten. Diese Kleinstädte stehen im Mittelpunkt der gegenwärtigen Wirtschaftswachstums-Strategien (New Majority), aber Neusiedler ziehen nun auch in die ländlichen Gegenden von U-Tsang. Das Ausmaß der chinesischen Einwanderungswellen hat besonders im Mai 1993 zu zahlreichen Protesten unter tibetischen Bauern geführt.

Die Ausbeutung der reichen Bodenschätze Tibets beschleunigt zugleich die legale wie auch die illegale Zuwanderung von Arbeitern. Eine Pressenachricht von April 1996 besagt, daß 500.000 Chinesen nach Osttibet verlagert würden, um in den Kupferbergwerken zu arbeiten, ein Projekt, das den Bau von mehreren neuen Bergwerkstädten mit sich bringt (Associated Press, 3/4/95). Im Distrikt Baiyu, Sichuan, beteiligt sich eine kanadische bei der chinesischen Regierung akkreditierte Firma an einem Abbauprojekt für Silber und basische Metalle, und ihr Stellv. Firmenchef für Investition stellte fest, daß die chinesische Regierung die Entwicklung der Gegend vorantreiben möchte, um mit der zunehmenden Zuwanderung von Chinesen in dieser Region "Schritt halten zu können" (Canada Tibet Committee, 30/1/96). 

Die chinesische Regierung hat zum Nutzen der chinesischen Einwanderer Schulen, ein Krankenhaus und Läden gebaut, und die Vorschriften zur Eröffnung von Privatunternehmen in Tibet gelockert (New Majority). Die Regierung hat die wichtigsten Straßenverbindungen der chinesischen Provinzen mit Tibet verbessert oder Straßen neu angelegt und vor kurzem alle Kontrollpunkte auf diesen Strecken abgeschafft. Das erste Eisenbahnprojekt in Tibet befindet sich auch im Bau. Der Hauptgrund für dieses Projekt ist die Versorgung der Neusiedler, weil Tibet nicht genügend Nahrungsmittel zur Ernährung der gewachsenen Bevölkerung produzieren kann.

Die Bevölkerung Tibets

Offizielle Bevölkerungsangaben sind nicht zuverlässig und geben kein vollständiges Bild ab, beispielsweise lassen sie den Anteil an Militär und an fließender Bevölkerung außer Acht. Offizielle Zahlen geben 79.000 Chinesen für die TAR im Jahr 1995 an (3,3 % der Gesamtbevölkerung) und eine tibetische Bevölkerung von 2,389 Mio. (Reuter, 19/3/96). FREE TIBET CAMPAIGN rechnet eher mit einer chinesischen Bevölkerung von an die 250.00 bis 300.000. Für den Gesamtraum Tibet, einschließlich jener Teile der Provinz Qinghai, die schon jahrhundertelang einen beträchtlichen chinesischen Bevölkerungsanteil aufwiesen, gibt der offizielle Zensus von 1990 eine chinesische Bevölkerung von 4,2 Mio. und eine tibetische Bevölkerung von 4,59 Mio. an. FREE TIBET CAMPAIGN schätzt die Gesamtzahl der Chinesen in Tibet auf 5 bis 5,5 Mio. (New Majority).

Wirtschaftliche Dominanz

Im letzten Jahrzehnt sind große Massen von Chinesen nach Tibet gezogen, wo sie sich im Einzelhandels- oder Dienstleistungsgeschäft oder als ungelernte Bauarbeiter angesiedelt haben. Der wirtschaftliche Sektor wird nun dermaßen von den Chinesen dominiert, daß die Marginalisierung des tibetischen Volkes irreversibel scheint. Jemand hat herausgefunden, daß in dem Tromzikhang Markt von Lhasa 756 chinesische Geschäfte auf 305 tibetische kommen. Eine Studie der Geschäfte in Tsethang ergab, daß es, angefangen von den Restaurants bis zu Obstverkäufern auf der Straße, 277 chinesische im Vergleich zu 120 tibetischen gibt. Im Distrikt Chabcha, Provinz Qinghai, stehen nun große Landstriche, die einst von tibetischen Nomaden benutzt wurden, unter chinesischer Kontrolle (New Majority).

Um Lhasa herum hat sich die Landfläche mit Gewächshäusern und Gemüsefeldern in chinesischer Hand seit den 90er Jahren dramatisch vermehrt. Besonders grotesk ist es, daß chinesische Bauern um Lhasa nun Beihilfe von dem UN-Weltnahrungsprogramm erhalten (New Majority).

Seit 1950 wurde tibetisches Acker- und Weideland konfisziert, kollektiviert und in kommunale Farmen eingegliedert. Der schnelle Zuwachs von Siedlern und Soldaten ist auch mitverantwortlich für die einzige Hungersnot, die in der Geschichte Tibets bekannt ist und während derer über 340.000 Tibeter starben. Ungeeignete Maßnahmen zur Steigerung der Produktivität von Landflächen, die nur als nomadische Viehweiden taugen, führten zu ausgedehnter Desertifikation.

Einwanderer erhalten Subventionen und andere Vergünstigungen wie Zulagen für die Höhenlage, Abgelegenheit, mildernde Umstände bei der Arbeitserlaubnis, kürzere Arbeitszeiten, längeren Urlaub und größere Marktchancen als in China. Die von Gewerbe und Staat gezahlten Löhne sind die höchsten in ganz China.

In Lhasa und anderen Städten stellt die Arbeitslosigkeit ein wachsendes Problem bei den Tibetern dar. Die chinesische Sprache ist das hauptsächliche Unterrichtsmedium, und Chinesisch ist für die meisten Berufe unbedingt erforderlich. Das gibt den Neusiedlern noch einen unmittelbaren Vorsprung, abgesehen von dem rein rassischen Vorteil, den sie bei dem Umgang mit den Behörden haben, welche die meisten der Arbeitsplätze, Wohnungsscheine und Handelsprivilege vergeben.

Chinesische Entwicklungspolitik für Tibet bedeutet auch Verbesserung der Infrastruktur, Investition in die Industrie, Förderung von kommunalen und privaten Unternehmen, Integrierung der ländlichen Bevölkerung in die chinesische Marktwirtschaft durch Modernisierung und Rationalisierung der Landwirtschaft, Landgewinnung und Seßhaftmachung von Nomaden. Während all diese Maßnahmen in der Theorie den Tibetern zugute kommen könnten, ist dies höchst selten der Fall (New Majority).

Bevölkerungstransfer ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht

Der massive Bevölkerungstransfer der chinesischen Regierung stellt einen Verstoß gegen das Recht des tibetischen Volkes auf Selbstbestimmung dar. Er führt zu nachweislichen Verletzungen wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte: des Rechtes auf Arbeit und auf Bildung, des Prinzips der Nicht-Diskriminierung, des Wohnungsrechtes, der Integrität der Kultur und der Kontrolle über die natürlichen Ressourcen des Landes (New Majority).

Umsiedelung – eine chinesische Tradition

Tibeter klagen, daß viele der chinesischen Arbeiter – oftmals erst vor kurzem aus der Armee ausgeschiedene Soldaten – Arbeitsplätze in Tibet bekommen, um zur stärkeren Überwachung und Infiltrierung der örtlichen Bevölkerung zu verhelfen und wenn nötig sofort zu den Waffen greifen zu können. Dieser Sicherheitsfaktor war auch bei den Massenansiedelungskampagnen Chinas in der Mandschurei Ende des 19. Jh. und in Ost-Turkestan in den 50er Jahren des 20. Jh. maßgeblich, und als diese Länder für die chinesische Besiedelung geöffnet wurden, wurde die Politik der Massenumsiedelung und der Assimilierung offenbar. Sogar in den 80er Jahren sprachen chinesische Politiker noch von den riesigen Möglichkeiten, welche die westlichen Regionen zur Aufnahme der expandierenden Bevölkerung Chinas böten. Eine derartige Entwicklung gilt der chinesischen Weltsicht zufolge, sowohl derjenigen des kaiserlichen Chinas als auch der revolutionären, als ganz natürlich. Sie wird auch als notwendig und sogar nutzbringend gesehen für die "rückständigen" Völker, welche von der Assimilierung mit den Chinesen angeblich nur gewinnen können.

Das Muster der Zuwanderung nach Tibet hat also historische Parallelen, es entspricht dem traditionellen chinesischen Expansionsschema und wird daher als die allergrößte Bedrohung für die Integrität Tibets gesehen.